Besondere Orte in Wismar


Besuch in St. Nikolai
Als es noch keine Kirchensteuer gab, musste sich die Kirche auf andere Weise
finanzieren. Sie verpachtete Grundstücke, besaß Höfe, erhob Messstipendien oder
vermietete Plätze in den Kirchenbänken.
Schneider-Innung, Schlosser-Innung, Familiennamen. Leicht angeschlagene Täfelchen;
angebracht vor den Kirchenbänken in St.Nikolai zeigen uns, wer oder welche
Berufsgruppen hier einmal ihren Stammplatz erworben hatten.
Die Täfelchen hängen weit über 100 Jahre an ihrem Platz. Zeitspuren kennzeichnen sie.
Das Metall – vielleicht sogar Messing - hat seinen Glanz verloren, die Schrift ist altmodisch
verschnörkelt. Die Nägel oder Schrauben mit Hilfe derer sie an der rückseitigen
Kirchenbank befestigt wurden – angerostet. Obwohl unscheinbar, winzig, klein verglichen
mit dem grandiosen Gesamteindruck im Inneren der Kirche St. Nikolai, waren die
Täfelchen einmal ganz wichtig – zu ihrer Zeit.


Der alte Hafen

 

Ich mag diesen Ort, weil man auf das offene Meer sehen kann. Na ja, eher auf die
Wismarbucht. Aber man kann das offene Meer erahnen. Links sehe ich bis Wendorf und
rechts sehe ich die Hafenanlagen mit den großen Kränen. Dort werden die Waren
umgeschlagen, viel Holz. Im Sommer riecht es hier oft nach Holz, ein bischen wie bei Ikea.
Das Holz macht die Stadt staubig. Jetzt ist es hier kalt und auch schon dunkel, weil ich
spät dran bin. Die sonnigen Tage habe ich verpasst. Ich höre die Schiffe tuten und die
großen Kräne sind beleuchtet, die Lichter spiegeln sich im Meer, das ganz ruhig ist.
Vorgestern ist das Meer übergeschwappt, in die Stadt hinein. Die Natur hat eine gewaltige
Kraft und die Nähe zum Wasser ist mehr als nur in der Sonne flanieren und Fischbrötchen
essen. Auch Fischbrötchenessen kann gefährlich werden, wenn die großen Möwen den
nichtsahnenden Touristen auflauern und ihnen die frisch gekauften Fischbrötchen aus der
Hand reißen.
Die Speicher sind groß und imposant. Ehemals Hauptumschlagplatz für Getreide, werden
sie jetzt für die Touristen aufgehübscht. Einige Speicher sind schon saniert. Sie werden
entkernt und in den Räumen, wo früher hart gearbeitet wurde, wo Lärm, Staub, Schweiß
und Dreck herrschten, entstehen komfortable Wohnungen, edle Restaurants und
Wellnessbereiche für die, die ihr Geld schon verdient haben. Flächen, die frei waren
werden bebaut mit kleinen Hausriegeln alle aus einem Guss, alles mit Backstein
verklinkert, steinerne Stadt. Ich mache mir Sorgen um diesen Ort, dass die Monotonie um
sich greift. Dass nicht mehr Menschen ihn im Sommer bevölkern, Jugendliche nicht mehr
ihr heimliches Bier trinken, laut Musik hören und grillen. Werden noch große Feste
stattfinden, wenn Touristen um ihre Nachtruhe fürchten? Wird die Boulebahn erhalten
bleiben, wenn die Grundstückspreise steigen und der Kreuzfahrtanleger Platz braucht.
Seien wir wachsam, damit nicht der Kommerz unsere Freiräume besetzt und die
verdrängt, die ihr Geld noch nicht verdient haben. Aber ich mag diesen Ort, weil ich das
Meer mag und die Weite, die Möwen und die Schiffe. Ich mag auch die Touristen, die
Besucher und die Fremden, andere Sprachen. Ich mag weit gucken auch über den
Tellerrand. Ein kurzer Abstecher an den Hafen ist ein Kurzurlaub und der Wind vom Meer
pustet den Kopf frei.


 

Aufgetaucht

 

Das konnte doch nicht alles sein. Er war viel zu schnell gegangen und hatte noch soviel, das er erleben wollte. Warum nicht fragen, um eine zweite Chance. Fragen kostetet nichts. Und der Entscheider sagte ja, er durfte noch einmal eintauchen in das Leben. Mit dem Ja sammelten sich die Partikel, die einmal seinen Körper ausmachten im Meer wieder Stück für Stück zusammen. Er ist verbrannt worden, nie wollte er unter der Erde begraben werden. Als er komplett war, stieg er an der Kaimauer die Treppe hinauf.

 

Er entdeckte einen Haufen mit trockenen Kleidern, die für ihn bereitlagen, sie hatten an alles gedacht. Schnell zog er sich an. Zum Glück sah ihn niemand, wie peinlich auch, sonst wäre er noch verhaftet worden, was für ein Start für eine zweite Chance.

 

Erstaunt sah er sich um und traute seinen Augen kaum. Der Hafen, in dem er viele Jahre im VEB Getreidesilo gearbeitet hatte, war nicht wiederzuerkennen. Die Speicher waren zwar noch da, doch schien hier niemand mehr zu arbeiten. Neue Gebäude waren entstanden, hell und sauber. Er schaute in die Schaufenster der neuen Läden und Cafés, was es dort alles gab. Das hätte er sich zu DDR-Zeiten nicht träumen lassen. Er hatte von den Neuen von der Wende gehört, aber es sehen, war etwas anderes.

 

Erschöpft setzte er sich auf eine Bank. Neben ihm saß eine ältere Frau, die mit altem Brot die Möwen fütterte. Er wünschte Guten Tag und begann ein Gespräch. Sie erzählte von ihrem Leben. Sie hatte immer gearbeitet und drei Kinder großgezogen. Nach der Wende verlor sie ihre Arbeit und fand auch keine neue. Ihre Wohnung im Friedenshof, auf die sie so stolz war, war immer noch warm und trocken, doch wenn sie auf die Straße ging, hielt sie ihre Handtasche ganz fest an den Körper gepresst. Die Menschen kümmerten sich nicht mehr um ihre Häuser und auch nicht um die anderen. Zwar konnte sie jetzt reisen, aber wohin ohne Geld. Früher hatte sie nichts, aber die anderen auch nicht. Sie vermisste den Halt und den Zusammenhalt. Zwar hatte sie nun die Freiheit, aber der Lebenssinn war verloren. Er fragte sie, wie es ihr jetzt ginge. Sie sagte: „Muß ja!“

 

Der Frust ballte sich zu einer harten Kugel und schlug ihm an den Kopf. Taumelnd erhob er sich und wankte an die Kaikante. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte an der selben Stelle wie damals in die Ostsee. Schwimmen konnte er noch immer nicht.

 

Das „Muß ja“ legte sich schwer um seinen Hals und zog ihn in die Tiefe.